Stadtgespräch

Die Dramaturgin Johanna Vater traf sich mit dem Blindenreporter und Blindenfußballtrainer Wolf Schmidt anlässlich der Premiere von Verwandlung zu einem Gespräch über AUSGRENZUNG.

manchmal entsteht die größte Kraft aus der Stille

Johanna Vater: Wolf, du bist seit 2009 Trainer der Blindenfuẞballmannschaft des FC St. Pauli. Wie bist du dazu gekommen?
 

Wolf Schmidt: Das war ehrlich gesagt Zufall. Ich hab gar nicht als Trainer angefangen, sondern 2004 mit der Blindenreportage bei St. Pauli. Ich stand damals auf der Gegengerade,  viele von meinen Freunden haben da gekifft, standen mit dem Rücken zum Spielfeld – keiner hat mehr wirklich das Spiel verfolgt. Das hat mich total genervt. Und dann hab ich gesehen, dass da ein blinder Fan steht, Joachim, mit einem Originaltrikot. Und ich hatte dasselbe Trikot – von Matthias Scherz. Da hab ich einfach angefangen, laut zu kommentieren, wie so ein Dauer-Simultanübersetzer, auch so ein bisschen, um meinen Leuten zu zeigen, was sie eigentlich alles verpassen. Nach 20 Minuten war ich durchgeschwitzt, das war echt anstrengend. Und dann sagt der Betreuer von Joachim: „Alter, geil, mach weiter, das ist richtig gut.“ Und so hat das angefangen.
 

Vater: Wie wurde aus diesem einmaligen Erlebnis dann etwas Dauerhaftes?
 

Schmidt: Das hat sich dann Schritt für Schritt entwickelt. Ich hatte dem Verein geschrieben, ob man so ein Angebot für blinde Fans aufbauen könnte – aber es kam keine Antwort. Später kam ich dann im Knust mit Sven Brux vom Verein ins Gespräch, der meinte: „Interessant – wir überlegen gerade, Technik anzuschaffen.“ Da hab ich gesagt: „Das geht auch günstig – ich bau euch was.“

Ich hatte ja visuelle Kommunikation an der HFBK studiert, vorher Super-8-Filme gemacht, Musik, experimentelle Sachen – und später auch als Tonassistent beim Film gearbeitet, als sogenannter EB Assi. Ich wusste also, wie man mit Audio umgeht, Mikrofone verstärkt, Signale verteilt. Also hab ich dem Verein ein einfaches Setup vorgeschlagen.

Aber mir war klar: Ich will das nicht nur aufbauen, ich will’s auch machen. Ich hab gesagt: Ich bin hier nicht nur der Ghostwriter. Und so hab ich 2004 beim ersten Spiel selbst die Reportage gesprochen und mache das jetzt seit 21 Jahren. Die Blindenreportage wird seit 20 Jahren auch als FC St. Pauli Webradio übertragen und heißt dann AFM Radio.
 

Vater: Und wieviel Zuhörende hattest du zu Anfang?
 

Schmidt: Am Anfang waren das, glaub ich, so 20 Plätze im Stadion. Das waren ehemalige TV-Scout-Plätze auf der Gegengerade – da standen noch so Blechtische rum, wo früher die Fernsehredakteure saßen. Die wurden einfach nicht mehr genutzt. Und dann hieß es: Okay, das könnten ja die Hörplätze werden. Und so fing das an.


Vater: Du arbeitest nicht nur im Stadion mit Sprache, sondern hast auch Audiodeskriptionen im Theater gemacht. Was bedeutet für dich diese Art von Beschreibung – ist das für dich eher eine Technik, eine Kunstform, oder etwas dazwischen?


Schmidt: Ich hab da eine ziemlich klare Meinung: Für mich ist Audiodeskription wie eine Simultanübersetzung. Es geht nicht darum, eine eigene künstlerische Interpretation zu liefern, sondern darum, präzise zu vermitteln, was passiert – möglichst in Echtzeit. Diese sogenannte „künstlerische Audiodeskription“ halte ich ehrlich gesagt für Quatsch. Wenn jemand Spanisch spricht und du verstehst kein Wort, willst du ja auch nicht hören, was der Übersetzer sich dabei denkt – du willst wissen, was gesagt wird. Und so ist es auch im Theater oder im Stadion.

Gleichzeitig hat das für mich was total Schönes – weil es eben nicht nur technisch ist. Wenn du gut beschreibst, überträgst du auch den Rhythmus, die Energie, das Gefühl von dem, was da gerade passiert. Und das geht nur, wenn du im Moment bist. Bei der Sache. Nicht hinterher.

Das ist das, was ich beim Fußball so liebe. Ich bin im Stadion, ich sehe die Reaktionen der Zuschauer, ich höre das Raunen, wenn der Ball knapp drüber geht – und ich will, dass der blinde Hörer das mitbekommt. Dass er im gleichen Moment denkt: „Ah, krass, das war knapp.“ Diese Synchronität, dieses Auf-Ballhöhe-sein, das ist eigentlich die Kunst.

Deswegen ist live auch so wichtig für mich. Weil ich da selbst beteiligt bin, emotional, körperlich. Ich erlebe das ja auch mit. Und dieses eigene Erleben fließt mit in die Sprache. Das ist keine objektive Nacherzählung, das ist eine geteilte Wahrnehmung. Und das ist am Ende genau das, was ich daran liebe: Ich bin dabei, ich bin beteiligt, ich erlebe mit – und ich versuche, das, was ich spüre, so weiterzugeben, dass es bei den anderen ankommt.

 

Vater: Spielt dieses „im Moment sein“, live zu reagieren auch eine Rolle in deiner Arbeit als Trainer?
 

Schmidt: Total. Ich komm selten mit einem schablonenhaften Plan. Ich schau erst mal was ist aktuell unser Thema: Was ist da? Wie sind die Leute drauf? Was brauchen sie – jetzt, in diesem Moment? Ich hör da viel. Auch das, was nicht gesagt wird. Was im Raum steht, zwischen den Zeilen. Manchmal muss ich dann eingreifen. Manchmal ist es besser, einfach laufen zu lassen. Spielen ist sowieso das Wichtigste.
 

Vater: Ein bisschen wie bei einer Theaterprobe?
 

Schmidt: Genau. Wenn du zu früh steuerst, machst du was kaputt. Wenn du zu spät kommst, ist der Moment weg. Aber wenn du’s richtig triffst – dann entsteht was. So ein Moment, wo sich was öffnet. Wo Verbindung da ist. Rhythmus. Vertrauen. Und dann kannst du auch loslassen. Dann trägt es von selbst.
 

Vater: Und gibt’s bei euch so etwas wie Theatermagie – also Momente, in denen alles zusammenkommt?
 

Schmidt: Absolut. Wenn alle die Spielidee verstehen, wenn Kommunikation fließt, wenn Vertrauen da ist – dann entstehen diese besonderen Momente. Und das gilt im Training genauso wie im Spiel. Manchmal muss ich lernen, loszulassen, nicht nur Leistung zu pushen, sondern auch Räume für Entwicklung zu schaffen. Das ist wie im Theater – manchmal entsteht die größte Kraft aus der Stille.
 

Vater: Ich hab gelesen, dass du aus einem totalen Zufall zum Trainersein gekommen bist und ursprünglich nur für ein einziges Turnier einspringen wolltest… Stimmt das?
 

Schmidt: Ja, das stimmt. Einer der Spieler, der früher bei unseren Reportagen zugehört hatte, kam irgendwann auf mich zu und meinte: „Wolf, du hast doch 'ne Trainerlizenz, oder?“ Und das stimmte tatsächlich – ich hatte mal die Fußballmannschaft meiner Tochter trainiert.

Dann sagte er: „Unser Trainer kann nicht, wir wollen auf ein Turnier – kannst du das übernehmen?“ Und ich hab gesagt: „Okay – aber wirklich nur dieses eine Mal.“ Ich dachte: Ich fahr da mit, vielleicht steh ich im Tor, vielleicht coach ich ein bisschen – und dann war’s das. Tja. Das war 2009. Und jetzt bin ich immer noch dabei.
 

Vater: Vielleicht hat’s ja einfach gut zueinander gepasst – du und der Blindenfuẞball?
 

Schmidt: Ja, vielleicht. Ich glaube, ich mag Räume, wo noch nicht alles festgelegt ist. Wo man was ausprobieren kann, ohne dass einem jemand reinquatscht.

Blindenfußball war 2006 in Deutschland ja noch ganz neu. Da gab’s keine festen Strukturen, keine Leute, die das Feld schon bestellt hatten. Das war ein Pionierraum. Und ich war mittendrin. Ich konnte mitgestalten, ausprobieren, Sachen entwickeln – das hat mich total gereizt.

Ich hab auch früh gelernt, mir solche Nischen zu suchen. Ich habe einen jüngeren Bruder – wir sind in einer sehr konkurrenzgeprägten Umgebung aufgewachsen. Ich glaub, ich hab früh gemerkt: Wenn ich was Eigenes will, dann muss ich dahin gehen, wo sonst keiner ist. Und da fühl ich mich bis heute am wohlsten.
 

Vater: Was hat dich all die Jahre gehalten?

Schmidt: Vielleicht, dass ich da gesehen hab, wie schnell sich was entwickeln kann, wenn man Leuten was zutraut. Im Blindenfußball – da kommen Leute, an die sonst keiner denkt. Und die sind dann halt einfach da. Und du kannst nicht sagen: Ich nehm nur die Guten. Du schaust: Was bringt der oder die mit? Was kann da draus werden? Und manchmal entsteht dann was, was keiner vorher geplant hat. Das find ich stark. Und das hält mich auch.
 

Vater: Wie wichtig ist für dieses „entstehen“ Vertrauen?
 

Schmidt: Das ist alles. Ohne Vertrauen kannst du’s vergessen. Du kannst dich ja nicht absichern. Wenn du den Ball nicht siehst, musst du hören. Oder spüren. Und wenn du nicht glaubst, dass der andere da ist, lässt du’s lieber. Und Vertrauen heißt auch: Nicht dauernd kontrollieren. Nicht alles vorgeben. Sondern da sein, aufmerksam sein – und dann reagieren, wenn was kippt. 

Ein Team entsteht erst, wenn dieses Vertrauen da ist. Wenn jeder weiß: Ich kann mich auf dich verlassen. Auch wenn du ganz anders tickst als ich. Gerade dann. Die einen sind laut, die anderen sagen gar nichts. Aber das heißt nicht, dass da nichts ist. Du musst hinhören. Manchmal merkt man erst später, dass die einander brauchen. Und wenn das passiert – dann wird’s ein Team. Ich glaub, das ist das Schwierigste. Und das Schönste. Wenn’s klappt, fühlt sich das ganz leicht an. Aber bis dahin ist’s richtig Arbeit.
 

Vater: Das klingt fast wie Regiearbeit – aufmerksam sein, führen, ohne alles zu kontrollieren. Gibt’s da für dich eine Verbindung zum Theater?
 

Schmidt: Ich glaub, als klassischer Regisseur wär ich wahrscheinlich zu laut, zu direkt. Ich würd zu viel reinrufen. Aber was ich verstehe, ist das Zusammenspiel. Das, was zwischen den Leuten passiert. Im Blindenfußball brauchst du ein Team, das nicht nur weiß, was es tun soll – sondern das aufeinander hört. Sofort reagiert. Das ist wie auf der Bühne: Du musst dich einlassen, mitspielen, abgeben können. Wenn du spürst, dass was hängt, dann musst du den Moment erwischen. Nicht zu früh, nicht zu spät. Ich sag dann im Training auch mal: „Stopp. Soundcheck! Wo bist du? Wer sichert? Wer hört wen?“ – Das ist wie beim Theater: Du merkst, wenn der Rhythmus nicht stimmt, wenn jemand nicht richtig steht. Es geht um Wahrnehmung. Um Präsenz. Um Haltung. Nicht nur bei den Spielern. Auch bei mir.
 

Vater: Was bedeutet es für dich, wenn alle mitspielen dürfen?
 

Schmidt: Kommt drauf an, wie das gemeint ist. Dürfen sie wirklich mitspielen – oder dürfen sie halt mal mitspielen, solange’s passt? Es gibt Inklusion, die ist eher dekorativ. Fürs Foto. Damit man sagen kann: Guck mal, alle waren dabei. Und danach ist wieder Alltag. Für mich ist das nicht der Punkt. Es geht nicht ums Dabeisein, sondern ums Mitgestalten. Darum, dass sich was verändert, weil andere da sind.


Vater: Was wäre für dich das Gegenteil von dekorativer Inklusion?
 

Schmidt: Na ja. Es gibt Inklusion, die sieht gut aus. Aber am Ablauf ändert sich nichts. Die Struktur bleibt, wie sie war. Und dann gibt’s die andere Art: Wo wirklich was passiert. Wo sich was verschiebt – im Spiel, in den Rollen, im Denken. Wenn Leute mit anderen Fragen reinkommen. Oder mit einem anderen Tempo. Und du fängst nicht an, sie anzupassen – sondern überlegst: Was können wir hier zusammen anders machen? Das ist manchmal anstrengender. Aber eben ehrlich. Und da wird’s dann auch interessant.
 

Vater: Wenn man das mal auf den Theaterraum überträgt – wie sähe für dich gelungene Inklusion dort aus?
 

Schmidt: Ich glaub, auch da geht’s darum: Wer bestimmt, wie gespielt wird? Wer darf auf der Bühne stehen – und wer darf mitbestimmen, was gespielt wird? Wenn jemand dazukommt, der anders arbeitet oder anders wahrnimmt, dann verändert sich was. Im Tempo. In der Sprache. In der Form. Und das ist manchmal unbequem – aber eben ehrlich.
Weil’s nicht nur um Teilnahme geht. Sondern um Teilhabe. Ich habe Anteil und bin dadurch ein Teil des Ganzen.
 

Vater: Also eher gemeinsam den Code neu verhandeln – statt jemanden in den bestehenden einzupassen?
 

Schmidt: Genau. Nicht bloß sagen: Du darfst mitspielen. Sondern gucken: Was wird anders, wenn du da bist?
 

Vater: Hat sich gesellschaftlich was verändert?
 

Schmidt: Ja, schon. Auf der Oberfläche. Es gibt mehr Programme, mehr Bilder, mehr Sichtbarkeit. Aber oft bleibt’s dabei. Es sieht gut aus, aber es trägt nicht. Es gibt eine Form von Inklusion, die ich „Anwesenheits Inkluison“ nenne – und es gibt Inklusion, die wirklich was verändert, die nenne ich „Qualitative Inklusion“. Wo Abläufe sich verschieben. Wo Rollen sich mitverändern. Wo neue Fragen reinkommen. Wo auch Verantwortung verhandelt wird. Das ist anstrengender. Aber auch ehrlicher.
 

Vater: Was braucht es, damit das öfter gelingt?
 

Schmidt: Räume. Und Haltung. Nicht: „Wir zeigen jetzt auch mal jemanden mit Behinderung.“ Sondern: Was braucht diese Person, um gemeinsam das Ding machen zu können? 
 

Vater: Braucht es mehr Vorbilder?
 

Schmidt: Ich bin vorsichtig mit Role Models. Wenn jemand aus sich selbst heraus sichtbar wird, weil er oder sie was kann – super. Aber wenn jemand nur gezeigt wird, damit’s netter aussieht – dann ist es Marketing. Ich will, dass Menschen zeigen können, was sie mitbringen. Und dass Strukturen sich mitbewegen. Nicht nur das Licht anknipsen – sondern die Bühne mit umbauen.
 

Vater: Jetzt habe ich zum Abschluss noch eine Frage an dich als erfahrenen Trainer: Wir starten ja ganz neu in Hamburg. Viele der Kolleg*innen kennen sich nicht. Hast du einen Tipp für eine gute Teambildung?
 

Schmidt: Macht Blindenfußball. Kein Witz. Da merkt man ziemlich schnell, wie man miteinander klarkommt. Wer führen will. Wer zuhört. Wer loslassen kann. Oder: Steigt zusammen ins Boot. Stadtparksee, zwölf Leute, keiner kennt sich – und dann rudern. Das ist kein Teambuilding-Kitsch. Das ist: gemeinsam straucheln, ringen. Und sich trotzdem vorwärts bewegen.


Vater: Das ist ein schönes Bild.
 

Schmidt: Weil’s stimmt.
 

Vater: Und gibt’s was, worauf du dich am Thalia besonders freust?

Schmidt: Ich bin neugierig auf „Die Verwandlung“, weil es da ja um jemanden geht, der plötzlich nicht mehr reinpasst – in die Familie, in die Gesellschaft. Das berührt mich, weil ich in meiner Arbeit oft mit Menschen zu tun habe, die genau das kennen. Die irgendwo rausfallen, weil sie anders sind. Und weil das vielleicht auch ein bisschen mein eigenes Lebensthema ist. Und Die Wut, die bleibt – das würd ich gern mit meiner Tochter anschauen. Weil das Thema Wut mich auch persönlich beschäftigt. Vielleicht ist das was, das uns beide angeht – auf unterschiedliche Weise.