Stadtgespräch

Anlässlich unserer Eröffnungspremiere Was ihr wollt traf sich Pressesprecher Nils Wendtland mit Modedesignerin und Kuratorin Bisrat Negassi zu einem Gespräch über IDENTITÄT.

 

 

Appell an die selbstliebe

Nils Wendtland: Was sagt Kleidung über einen Menschen aus? Ist das, was wir anhaben, ein Spiegel unserer Persönlichkeit – oder spiegelt es unsere Vorbilder wider?

 

Bisrat Negassi: Sowohl als auch, denn deine Role Models hast du dir ja selbst aus einem bestimmten Grund ausgesucht, weil du dich von denen verstanden fühlst und diese das ausleben, was du gerne selber ausleben möchtest. Mode ist eine visuell hörbare Sprache. Sie drückt all das aus, was du preisgeben möchtest. Möchtest du lieber unauffällig bleiben, in der Menge verschwinden oder auffallen? Oder vielleicht einfach nichts sagen? Wobei Schweigen auch eine Aussage ist. Für mich zum Beispiel ist Schwarz wie eine Rüstung. Ich kleide mich schwarz, wenn ich nichts von mir preisgeben will.

 

Wendtland: Okay, ich trage auch gerade schwarz.

 

Negassi: Siehste, wir alle haben so unsere Farbe. Mit Farben verbinden wir Emotionen. Insofern ist Mode eigentlich das, was wir zuallererst von der Person, die uns gegenübersitzt oder an uns vorbeigeht, mitbekommen. Und wir können das selber variieren oder justieren.

 

Wendtland: Ist das nicht ein bisschen wie Verkleiden? Spielen wir alle Theater?

 

Negassi: Naja, vielleicht, vielleicht aber auch nicht, aber das weiß dein Gegenüber ja nicht. Du schreibst dein eigenes Drehbuch. Es kann ein Verkleiden sein oder es ist Ausdruck deiner Persönlichkeit, deiner momentanen Stimmung.

 

Wendtland: Du hast mir erzählt, dass dein Bruder in Hannover schon mal Theater gespielt hat. Was waren denn sonst deine bisherigen Berührungspunkte zum Theater?

 

Negassi: Richtig, mein Bruder ist Musiker und war auch Schauspieler. Und dieses Sich-Darstellen habe ich beneidet. Theater spielen, in andere Rollen schlüpfen, das fand ich immer superspannend. Aber meine ganz besondere Erfahrung mit Theater – da muss ich ein bisschen ausholen. Ich komme ursprünglich aus Eritrea. Als Sechsjährige bin ich mit der Familie nach Deutschland geflüchtet. Als ich 17 war, wollte ich unbedingt nach Eritrea zurück, das war noch während des Unabhängigkeitskrieges. Dort begegnete mir Theater in unvergesslicher Weise. Ich verbrachte die meiste Zeit in einem Künstler*innenkollektiv. Dort erlebte ich die Kraft der Kunst. Kunst – und damit meine ich auch die darstellende Kunst – besitzt eine unglaubliche Kraft, Emotionen zu vermitteln und Transformationen anzustoßen. In alle Richtungen. Weißt du, was ich meine? Damals, mitten im Kriegsgebiet, war ich bei diesen besonderen Menschen. In dem Moment wurde mir klar, wie wichtig Kunst ist, um düstere Zeiten zu überstehen.

 

 

Augen und Ohren offenhalten!

Wendtland: Und wie ist dein Verhältnis heute zum Thalia Theater?

 

Negassi: Für mich ist es eng mit Freundschaft verbunden. Einige Menschen, die mir sehr am Herzen liegen, haben am Theater gespielt, und einige tun es auch heute noch. Besonders eine enge Freundin von mir war für eine Weile am Thalia Theater tätig, und in dieser Zeit war ich dort ständig zu Gast.

 

Wendtland: Im Zuge des Intendanzwechsels kommen jetzt viele neue Menschen und Künstler*innen nach Hamburg. Was für einen Hamburg-Tipp wurdest du den Neuen mitgeben?

 

Negassi: Augen und Ohren offenhalten! In Hamburg findet einiges statt, wie zum Beispiel im Museum für Kunst und Gewerbe. Schaut euch die Ausstellungen an, trefft euch mit mir, um euch auszutauschen. Ich finde, in Hamburg gibt es wirklich viele spannende Kultureinrichtungen, und die konnten sich noch viel intensiver vernetzen und sich so genial ergänzen. Darüber hinaus mochte ich jede Person zu einem besonderen Ort einladen, den ich mit begründet habe: M.Bassy. Es ist ein Artspace für zeitgenössische Kunst vom afrikanischen Kontinent und der Diaspora. Dort finden viele spannende Ausstellungen und Events statt.

 

Wendtland: Am Thalia Theater gibt es seit vielen Jahren das Projekt Embassy of Hope – die Gaußstraße ist dabei Begegnungsort, Sprachcafé, Labor und Anlaufstelle für transkulturellen Austausch. Dein Projekt M.Bassy scheint einen ähnlichen Ansatz zu verfolgen.

 

Negassi: Ja, ganz bestimmt. Auch unsere M.Bassy ist eine Botschaft der Hoffnung. Es ist ein Kunstraum, ein öffentlicher Raum. Das ist ein Ort, den wir uns für Hamburg immer gewünscht haben. Ein Ort der Begegnung, des Vernetzens und des Ins-Gespräch-Kommens. Denn das ist, was wir als Gesellschaft nicht aus den Augen verlieren dürfen: das Miteinander-Sprechen. Inzwischen gibt es glücklicherweise einige tolle Orte in Hamburg, aber vor neun Jahren, als wir M.Bassy gegrundet haben, fehlte so ein Ort. Wir betreiben das als Kollektiv und mochten damit den Hamburger*innen Afrika aus der Perspektive Afrikas nahebringen. Weg von den ganzen Klischees. Uns geht es auch darum, die Verbindungen zwischen Hamburg und Afrika zu beleuchten, die bislang kaum aufgearbeitet wurden, wie zum Beispiel die deutsche Kolonialgeschichte.

 

Wendtland: An den Kultureinrichtungen hat sich in den letzten Jahren viel getan, gerade im Umgang mit der eigenen Historie, dem Kolonialismus, der Aufarbeitung. Zunehmend auch ein selbstkritischer Blick auf Macht und Hierarchien, auf Geschlechterrollen, Diversität, Klassismus und Rassismus. Wie beobachtest du diese Entwicklung?

 

Negassi: Da liegt noch viel Arbeit vor uns. Viele Menschen sind noch immer der Meinung, dass Rassismus etwas ist, das nur die Betroffenen angeht. Das ist etwa so, als würde man eine Frau fragen, wie man Sexismus loswerden kann. Nur weil die Frau von Sexismus betroffen ist, soll sie die Lösung parat haben? So ist es auch mit Rassismus. Ständig werden Betroffene nach Lösungen gefragt. Das ist doch absurd! Eigentlich müssten sich doch diejenigen, von denen das Problem ausgeht, ein Konzept überlegen, wie man das aus der Welt schafft. Aber genau die sehen ihre eigentliche Verantwortung nicht. Wir sind immer noch an dem Punkt, wo viel von Inklusion und Diversität geredet wird, und um das dann abzuhaken, werden Vorzeigemenschen in diese Hauser geholt, aber am besten nur als Deko.

 

Wendtland: Im Kunstverein gibt es gerade eine Ausstellung von Prateek Vijan, die sich mit der Willkür kolonialer Besitzansprüche beschäftigt – und einen Gegenraub plant. Was gestohlen wurde, darf legitimerweise auch wieder zurückgestohlen werden?

 

Negassi: Fragen wir uns doch erstmal: Wie sind diese Dinge überhaupt hierhergekommen? Wurden dafür nicht unschuldige Menschen ermordet? Unzählige menschliche Gebeine lagern heute immer noch in deutschen Institutionen. Wurden nicht Theorien entwickelt, um all diese Gräueltaten und Verbrechen, mit deren Folgen wir heute noch zu kämpfen haben, zu rechtfertigen? Jetzt zu sagen: »Wir holen uns unser Eigentum zurück«, finde ich absolut legitim.

 

Wendtland: Wenn man die großen Kultureinrichtungen von außen betrachtet, haben sie auch etwas Abschreckendes. Allein die Architektur kann eine Hürde darstellen. Wie schaffen es Institutionen, echte Begegnungen mit Menschen herzustellen?

 

Negassi: Vor allem müssen sie ehrlich sein. Sich selbst hinterfragen, mit ihren internen Machtstrukturen, veralteten Denkmustern. Eine echte Veränderung muss von innen kommen, um nach außen zu wachsen. Man muss spüren, dass sie es ernst meinen! Sie müssen von ihrem akademischen hohen Ross herunterkommen. Wo ein Wille ist, gibt es immer einen Weg. Es darf nicht bei leeren Worten bleiben. Sonst bleiben die Institutionen angsteinflößend.

 

Wendtland: Du hast ein sehr beeindruckendes Buch geschrieben über deine Lebensreise von Eritrea nach Hamburg mit dem Titel Ich bin. Steht der Titel für die Selbstermächtigung des Ichs – und die Selbstbestimmung darüber, wie ich von der Welt gesehen werden mochte?

 

Negassi: Das Leben ist eine Reise zu uns selbst. Dass wir uns akzeptieren, wie wir sind. Uns umarmen – und vor allem würdigen. Selbstermächtigung nicht wirklich, ich würde eher Selbstliebe und Selbstwürde sagen. Ich bin absolut davon überzeugt, dass Selbstliebe die Antwort auf viele Probleme ist. Eine Person mit gesunder Selbstliebe kann auch nur Liebe weitergeben. Das denke ich. Wenn ich voller Liebe bin, dann hat Hass keinen Platz in meinem System. Ich bin ist ein Appell an die Selbstliebe.

 

Wendtland: Mit unserer Reihe Stadtgespräche laden wir dich ein, uns in der kommenden Spielzeit am Theater zu begleiten. Worauf freust du dich am meisten?

 

Negassi: Also Was ihr wollt spricht mich auf jeden Fall sehr an. In der Ankündigung steht: »Das Zentrum der Liebe ist zumeist der- oder diejenige selbst«, das würde ich mir sehr gerne anschauen. Und davor natürlich Thalia Goes Open Air auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz.

Bisrat Negassi wurde Anfang der 1970er- Jahre in Asmara, der Hauptstadt von Eritrea, geboren. Als Kind floh sie mit ihrer Familie nach Deutschland. Sie studierte Modedesign und gründete 2004 in Paris ihr Label Negassi (negassi.com). Sie ist Mitgründerin des Kulturraums M.Bassy (m-bassy.org) und des Ateliers COME iN TENT in Hamburg. Zudem ist sie Leiterin der Sammlung Mode und Textil im Museum für Kunst und Gewerbe. 2022 erschien
ihr Buch Ich bin im Goldmann-Verlag.
Hier auf dem Foto ist sie im Fluchtkleid ihrer Mutter zu sehen.